Straßenexerzitien

Straßenexerzitien

Neben den morgendlichen Bibelarbeiten und den vielfältigen Gottesdiensten ist das Hineinschnuppern in den Workshop „Straßenexerzitien“ mit Christian Herwartz SJ mein spirituelles Highlight des 100. Katholikentags in Leipzig.

Geistliche Übungen nach Ignatius von Loyola auf der Straße? Geht das? Keine Stille, kein Sich-Zurückziehen, keine Vorträge, nichts lesen… Wir sind ca. 70 Interessenten, wie weiland bei Lk. 10, 1-11. Frauen und Männer aller Altersgruppen. Christian Herwartz erläutert, was man über Exerzitien auf der Straße wissen muss. Er hat diese Form „erfunden“ und mit einem Team jahrelang in Berlin und anderswo ausprobiert. Normalerweise dauern Straßenexerzitien 7-10 Tage, mit spartanischer Unterbringung in Gemeindehäusern.

Was wir im Unterschied zum Bibeltext nicht machen: Wir müssen nicht zu Zweit gehen. Wir müssen keine Dämonen austreiben und keine Kranken heilen. (Warum eigentlich nicht? Das gehörte doch zum [Profil des frühen Gemeindelebens]. Die Jünger sollten schließlich nichts anderes machen, als Jesus selbst bei seinem Kommen.) Wir sollen nicht evangelisieren. Keine missionarische Überlegenheit.

„Da wo Du stehst, ist heiliger Boden“ [2. Mos./Ex. 3, 8] – also Gottes Orte in der Stadt entdecken. Wo auf den Straßen mag Jesus schon mit offenen Armen warten auf Menschen? Was wir gemäß dem Bibeltext machen: Keine Vorratstasche, kein Geld, kein Smartphone – zwei Teilnehmer verlassen unsere Runde. Keine Schuhe!… tja, ich riskiere es nicht, barfuß zu gehen. Meine Angst vor Glassplittern ist stärker. Aber ich habe wohlweislich Jesuslatschen angezogen und ziehe wenigstens meine Socken aus. Die Rucksäcke bleiben am Treffpunkt. Geld? Ich stecke mir 50 ¢ ein für einen evtl. nötigen Toilettengang.

Dann geht’s los, nur mit der Kleidung am Leib, ziellos, und mit 2 Std. Zeit. Ich fühle mich total frei. Ich gehe sehr gemessenen Schrittes, wie sonst nie unter Zeitdruck oder mit geplantem Ziel. Ich will durch die Innenstadt gehen, mache aber einen Bogen um die Geschäftigkeit der Kirchenmeile auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Diese Gelassenheit, diese Langsamkeit tut gut. Ich nehme die Menschen, den Verkehr und die Häuser ganz anders wahr. Ich ertappe mich dabei, meine Augen auf spätere Fotografiermöglichkeiten auszurichten. Ich switche das off und schaue den Menschen ins Gesicht. Manche halten stand, lächeln sogar bisweilen. Im Text steht, „niemanden zu grüßen“ – was es damit wohl auf sich hat?

12 Uhr, die Nikolaikirche läutet ihre Mittagsglocke. Warum soll ich zum Beten in die Kirche gehen? Draußen ist alles viel lebendiger, und ich kann mich doch einfach an eine Straßenecke stellen und für die vielen Vorbeieilenden oder -schlendernden beten? Am Portal steht: „Zugang nur für den Versöhnungsgottesdienst“. Ich frage die fleißigen Helfer an der Kirchentür: „Wer soll sich denn jetzt versöhnen? Streitende Menschen, oder Menschen mit Gott, oder ist es ein Beichtgottesdienst?“ Sie schauen etwas betreten und sagen: „Das wissen wir eigentlich auch nicht. Wir haben nur die Order, Beter reinzulassen.“ Nun gut, ich habe das Gefühl, dass Versöhnung für mich jetzt nicht auf der Agenda steht und bleibe gegenüber eine Weile stehen und bete für die Menschen, die in die Kirche hineingehen, und um Versöhnung, in welchen Kontexten auch immer.

Weiter geht’s Richtung Hauptbahnhof. Ab hier sind die Straßen fremd für mich. Viele Straßencafés. An einem der Tische sitzt eine ältere Frau und löffelt ihre Suppe. Ich wünsche ihr im Vorbeigehen einen guten Appetit. Sie freut sich über meinen Gruß (also doch! Wir „müssen“ nicht schweigend gehen) und bedankt sich. Am Hauptbahnhof steht die Kanzel des „Off-Church“-Projekts. Ein Animateur versucht, Menschen einzuladen hochzusteigen, nicht zum Predigen, aber um den Passanten etwas Nettes zu sagen. Niemand traut sich. So aus dem Stegreif eine „frohe Botschaft“, eine gute Nachricht ablassen? Ich traue mich auch nicht. Was wäre denn in Kurzform eine Quintessenz der Bibel? Der Animateur weiß es: „Fürchtet Euch nicht!“ Eine der am meisten gebrauchten Einladungen in der Bibel. Ich ärgere mich, dass ich das jetzt nicht auf dem Schirm habe. [Lebe ich doch selbst] in dieser Verheißung!

Eine Gruppe jugendlicher Punks sitzen ein paar Meter weiter auf dem Fußweg und erbetteln sich ein paar Euros von den Passanten. Ich setze mich zu ihnen. Das wollte ich immer schon einmal machen. Einige sind stark alkoholisiert, aber einer von ihnen anscheinend überhaupt nicht. Er achtet auf seine Kumpels. Ein Mädchen ist dabei. Sie wollen wissen, wie ich heiße und stellen sich selber vor. Dann fragt mich einer, ob ich mir vorstellen könnte, was sie von mir wollten. „Klar“, sage ich, „Kohle“. Sie lachen. Ich hab nur die 50 ¢ in der Hosentasche. Sie fangen ein bisschen an zu streiten, in welchen Becher ich es legen solle. „Nein, bei der darfst du es nicht reinwerfen, die gibt nichts ab“, werde ich belehrt. Das Mädchen guckt säuerlich, sagt aber nichts. „Wie wär’s denn, wenn es egal ist, wo das Geld landet, und bei Schichtende teilt ihr es untereinander auf?“ frage ich. „Das machen wir ja“, sagt der Nüchterne, „aber die will nicht teilen“. Ich trenne mich von meinem Toilettengeld (das gar nicht nötig gewesen wäre, die Toilettencontainer in der Stadt sind kostenlos). „Aber auf deinem Bankkonto hast du doch noch genug zum Leben“, meint einer. Mir wird das Paradoxe dieser Situation bewusst. Mir wird das Paradoxe der Mission bewusst. Wir setzen uns ungewohnten Lebensstilen aus, wollen „Kirche der und mit den Armen“ sein, und haben alle erdenkliche Sicherheiten, auch als Missionare in Afrika. Wenn wir krank werden oder sonst in Schwierigkeiten geraten, können wir mühelos wieder nach Hause… Selbst wenn ich aussehen würde wie ein Punk (ich kenne einen Jugenddiakon, nur arbeitet der gar nicht unter Punks…): Ich bin keiner und kann es auch nicht sein, schon gar nicht für eine Viertelstunde. Wir reden nicht mehr viel, ich höre einfach ein bisschen zu. Dann zieht die Polizei mit mehreren Einsatzkräften auf. In der Gruppe kommt Unruhe auf. Kontrolle? Platzverweis? Sie haben ihre Erfahrungen. Als dann noch ein Mannschaftswagen auftaucht und neben uns hält, wird es mir zu heiß. Ich habe ja keine Papiere dabei. Was ist, wenn ich festgesetzt werde? So ist das mit unseren Sicherheiten… Ich stehe auf und verabschiede mich kurz.

Wir hatten uns am Bayerischen Bahnhof zur Reflexion verabredet. Unsere Rucksäcke und Taschen sind dahin gebracht worden. Wir teilen uns in kleine Gesprächsgruppen auf, jeweils geleitet von einem oder einer Teamer/Teamerin. Und das geht sehr professionell vor sich. Während der nächsten zwei Stunden hat jede/r von uns die Möglichkeit, seine Eindrücke zu erzählen und was für ihn oder sie am auffälligsten oder wichtigsten war. Die Teamer spiegeln die Aussagen und geben ihre eigenen Wahrnehmungen zum Erzählten wider, und auch wir Gruppenmitglieder können es tun. Dadurch wird diese Auswertung ziemlich sorgfältig. Bei mir bleibt noch einmal das „Fürchte Dich nicht!“ hängen. Ich hatte zwar keine Furcht, mich mit Punks zu unterhalten, aber der polizeiliche Mannschaftswagen hat in mir dann doch Angst ausgelöst. Ob ich bei „richtigen“, langen Straßenexerzitien in so einer Situation standgehalten und mich einem polizeilichen Identifikationsverfahren ausgesetzt hätte? Ich weiß nicht… Die Gesprächsleiterin weist mich noch darauf hin, dass ich an der Nikolaikirche beim Stichwort „Versöhnung“ eingehakt hätte und dass dies vielleicht nicht ohne Grund passiert wäre.

Einige sind wirklich barfuß gegangen. Einer erzählt, dass er dies nie im Leben für möglich gehalten hätte. Die Sauberkeit der Leipziger Fußwege wird gelobt. Der Grund, auf dem ich stehe oder gehe, der Boden unter den Füßen wird nochmal ganz anders wahrgenommen. Der Weg wird sorgfältig in den Blick genommen und buchstäblich erfühlt. Ich muss das unbedingt auch einmal ausprobieren.

Einige Tage Straßenexerzitien kann ich mir gut in meiner Stadt vorstellen, weil eine Gruppe auf diese Weise das Wesen der Stadt und der Menschen in ihr über die üblichen Informationen hinaus noch einmal „ganz unwissenschaftlich“ und sinnlich wahrnehmen und erfassen kann. Das würde eine Sozialraumanalyse sehr vorteilhaft ergänzen. Je nach Gruppengröße wären professionelle Begleiter/innen hilfreich. Ich glaube es bringt nichts, wenn man ein solches Projekt „einfach so“ machen würde. Vielleicht lässt sich das ja in nächster Zeit organisieren.

2 Comments

Comments are closed.