Von Fr.abend 9 bis So.morgen 9 Uhr.
Wiederholt hatte ich davon erzählt, wie in den ersten Jahren meines 3rd-Life die Bekanntschaft mit Jugendevents, Gebetstagen und -nächten auf mich abgefärbt und meine Spiritualität geprägt hat, z.B. [hier] oder [hier].
Auf Stadtebene habe ich versucht, Gebetszeiten in den Gemeinden so zu koordinieren, dass [an jedem Tag der Woche eine Gebetszeit] gehalten wird, und nicht alles parallel läuft – multikonfessionell! Das ging bis Corona auch ganz gut, hat aber seitdem leider ziemliche Lücken, auch weil manche der Protagonisten inzwischen ihren Wohnort gewechselt haben. Ganz normal halt bei jungen Leuten.
Aber der Bedarf nach mehr Gebetszeiten, womöglich 24 Std. an 7 Tagen der Woche, hält sich sehr in Grenzen, ausgenommen bei den [Benediktinerinnen am Hasetor], die das schon seit über 160 Jahren machen. Es gibt zwar Bürger, die gerne und auch viel beten, aber so etwas wie ein Gebetshaus ins Leben zu rufen, das ist noch eine ganz andere Hausnummer (Standort, Trägerschaft, Finanzierung …). Auch ein Kooperationsprojekt z.B. der Evangelischen Allianz und weiterer missional interessierter Konfessionen liegt noch, wenn es überhaupt auf Gottes Agenda für meine Stadt steht, in weiter Ferne (in Bielefeld wurde es gemacht, [wenn auch noch nicht rund um die Uhr gebetet wird]!).
Aber es einmal auszuprobieren – das hat was!
Die Andreas-Gemeinde hat es auf Initiative der Freitagsabends-„Matches“ (Zündhölzer) der Andreas-Jugend hinbekommen!
36 Std. ununterbrochenes Gebet in Gruppen von 4 bis 2 Personen oder solo, jeweils 1, 2 oder mehr Stunden. Der gemütliche Jugendraum wurde mit wenig Aufwand mit ein bisschen adventlichem Schmuck ausgestattet. Kreativ-Station (schreiben, malen, lettering), Gebetsanregungen und Bibelstellen, leere Wandposter, Bibeln, Liederbücher und Gitarre u.a. gehörten dazu. Snacks und Getränke standen bereit. Für die ganz Harten war Übernachtung im Gemeindehaus möglich. Und alles Corona-Maßnahmengetreu nach den ab Sonntag im Bundesland geltenden verschärften Regeln mit Impfstatus, Maskenpflicht, Abstands-, Desinfektions- und Belüftungsregeln.
Meine erste Gebetsstunde zu Viert habe ich hörend verbracht. Was mag Gott wohl sagen zu den gefühlten 1001 Anliegen meiner Mitbeterinnen? Er ist größer als unser Herz (1. Joh. 3, 20, Wahlspruch des Osnabrücker Bischofs), und ich bekomme dazu den Song „Mein Gott ist größer“ in den Sinn, im dem es heißt: Er kämpft meine Kämpfe… Ich versuche, mir das vorzustellen, gerade im Zuhören zu den Problematiken, die im Gebet ausgesprochen werden. Das vernehmlich zu tun, entlastet ungemein! Ich werde das im weiteren Verlauf der 36 Std.-Aktion noch hautnah zu spüren bekommen.
Die Gebetszeit wird unterbrochen vom Adventstreffen des Teenie-Bible-Colleges [„TBC“]. Thema ist „Weihnachten in Notzeiten“, und es sind einige Greyheads eingeladen, ihre ganz anderen Weihnachtserlebnisse zu erzählen. Die Zeit reicht nicht, bevor die 23 Youngster im Alter von 12–14 Jahren von ihren Eltern schon wieder abgeholt werden.
In der zweiten Gebetsstunde bin ich allein und bringe meine Eindrücke zu Papier. Gott legt uns seine Verheißungen vor, damit wir in Freiheit entscheiden, ob sie/er für uns darin vertrauenswürdig sind bzw. ist. Unsere „Wenns“ und „Abers“ spiegeln die Argumente der ewigen Bedenkenträger um uns herum wider, die uns vom ersten Schritt oder vom mutigen Voranschreiten abhalten wollen. Sich immer wieder neu auf Gott zu verlassen erfordert, dass wir mit unserem Hintern vom Sofa hochkommen und uns in Bewegung setzen (lassen) – und zwar jetzt, nicht erst morgen. Mit der bereit stehenden Bluetoothbox kann ich meinen gegenwärtigen Lieblingssong vom Smartphone hören und mitsingen [„Dann auch ich – so will I“] in der Hillsong-Coverversion von Alive Worship, deren deutsche Übertragung fast besser gelungen ist als das Original. Meine Ernährungsärztin hat mir zur Stresstherapie zwei Dankbarkeitsübungen täglich verordnet. Na denn! Hier ist eine der Gelegenheiten dazu!
In der Morgenfrühe des Sonntags bin ich nochmal dran. Wieder bin ich allein – fast, denn einer der Jugendlichen hat sein Nachtlager im Kindergruppenraum aufgeschlagen. Also sind wir mindestens zu zweit „in seinem Namen versammelt“, auch wenn einer den Schlaf des Gerechten schläft. Der Gegenwart Jesu dürfen wir jedenfalls sicher sein. Um nach dem Fußmarsch von zu Hause durch Dunkelheit und Kälte etwas in Fahrt zu kommen, hole ich mir das „Benedictus“, den Lobgesang des Zacharias (Lk. 1, 67 ff.) aufs Smartphone, von dem wir [am 2. Advent in der Predigt] gehört hatten. Jeden Tag beginnt in den Klöstern damit das Morgenlob (Laudes). Ja, ich kann es noch singen! (Der Schläfer ist weit genug entfernt.) Kernbotschaft heute morgen: Wir müssen die Welt nicht retten (V. 69) Aber um aus „Finsternis“ und „Todesschatten“ ins Licht zu gelangen, sind unsere Schritte (V. 79) „auf dem Weg des Friedens“, also Körpereinsatz, d.h. unsere ganz praktische Zuwendung zu unseren Nächsten gefragt. Durch Passivität passiert da (wie überall in der Politik) überhaupt nichts – und mag sie noch so fromm daherkommen!
Zuwendung, Abwendung von, Kehrtwende (Bekehrung) bringen mich mit dem Namen Gottes in Kontakt, der auf einem der Lettering-Seiten an der Wand prangt. Ganz „zufällig“ ist es auch die Losung des 3. Adventssonntags 2021 aus Hes. 39, 7.
„Ich bin der Für-Euch-Dasein-Werdende“ übersetzt Martin Buber die hebräischen Buchstaben JHWH. Ich meditiere das ein bisschen weiter: Papa, wer bist Du eigentlich – für mich? Heute? Und mir fallen viele Eigenschaften Gottes ein, die seinen Namen durchbuchstabieren: JHWH heißt z.B. interessiert sein an uns · aufmerksam für uns sein · einfühlsam sein, sensibel · zugewandt sein · annehmen · für uns dasein · Schuld tragen · erlösen · Zuflucht schenken · aufatmen · eine WG mit uns aufmachen (Offb. 3, 20) · geborgen sein · kurz: befreit leben! Zum Schluss bete ich noch die Zettel in der Gebetsanliegen-Kiste durch, die einige Beter/innen in diesen Tagen notiert hatten.
Nach dem Singen des Lobgesangs des Zacharias bin ich nicht wieder still geworden. In charismenorientierten Gemeinden (und Familien…) wird laut gebetet. Also keine Fremdtexte vorlesen, sondern freies Beten, so wie einem der Schnabel gewachsen ist. Das mache ich jetzt seit 50 Jahren. Heute konnte ich nochmal den Wert dieser Gebetsform spüren, neben der Still-Zuhören-Erfahrung von der ersten Stunde: Gefühle (ja, darum geht es auch!) auszusprechen hilft, sie loszulassen, freizulassen. Lob, Dank, Klage, Bitte, Anbetung quasi „bei Gott abzuliefern“ im Vertrauen, dass sie nicht an der Wand abprallen, befreit ungemein! Ich muss mich mit dem zum Ausdruck Gebrachten nicht weiter ständig herumschlagen. Das erhöht den Resilienzpegel, macht widerstandsfährig gegen die Unbilden des Alltags und schützt vor Depressionen – besonders in Coronazeiten! Wer glaubt, ist nie allein! Während meiner eigenen Corona-Erkrankung im Frühjahr 2020 habe ich das so präsent wie selten erfahren. Dabei ist Gott für mich nicht irgendwo in einem Wolkenkuckucksheim („hoch über all dem Staub der Welt“, wie es fast ketzerisch in einem beliebten Song heißt), sondern direkt neben mir. Er ist mein Buddy, mit dem ich auf Augenhöhe sein darf. „Vater im Himmel“ mag ich eigentlich nicht beten, denn es ist viel zu distanziert. Auch meinen Kindern habe ich es nicht beigebracht. „Ich weiß, dass er hier unten steht, mitten in all dem Staub der Welt…“ singe ich. Weil ich glaube, dass Gott genau hier zu finden ist. Heute.
Geht es gerade an Weihnachten nicht genau darum?