Unser Sommerprogramm 2017 ist die Donau, von Passau bis ins Donaudelta. Ins Schwarze Meer schafft es die Bauart unseres Flusskreuzfahrtschiffes angeblich nicht. Also ist das rumänische Tulcea 70 km vor der Mündung Ziel und Wendepunkt. Wir durchstreifen dramatische Epochen der europäischen Geschichte: Kelten, Römer, Mongolen, Türken, die Donaumonarchie, den Nationalsozialismus, den Zerfall Jugoslawiens, Europäische Union – Krieg und Frieden, deren Spuren unübersehbar sind. Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die noch viel Arbeit verlangt. Aufschwung von Religion und Kirche bei jungen Leuten. Ob die orthodoxe Variante des Christseins wirklich echte Fortschritte bringen kann?
Start meiner Urlaubslektüre sind Peter Hahne: Niemals aufgeben! – Mit Werten in Führung bleiben (ISBN 978-3-8429-1005-8, 23. Auflage), und Heiner Geißler: Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss? – Fragen zum Luther-Jahr (ISBN 978-3-550-05006-0, 4. Auflage). Kontrastreicher als es in diesen beiden Spiegel-Bestsellern dargestellt wird, können Konsequenzen aus dem Zeitgeist heute kaum sein. Dabei gibt es durchaus frappierende Schnittstellen bei beiden. Beim Lesen wünsche ich mir, dass Hahne und Geißler die Bücher des jeweils anderen gelesen haben mögen!
Hahne versucht sich an einer theologischen Pädagogik des Scheiterns. Eine praxistaugliche Perspektive! Angst zu scheitern treibt viele Zeitgenossen um. Dabei sind die biblischen Vorbilder durchaus realistisch: Mose hat das Leben eines Menschen auf dem Gewissen und wird dennoch berufen, das Volk Gottes in die Freiheit zu führen – die er nur von Ferne zu sehen bekommt. David ist ein Ehebrecher und Mörder und wird dennoch König: „Sohn Davids“ wird zum Ehrentitel des Messias. Man könnte noch den Perserkönig Cyrus anführen, der gar kein Israelit ist und dennoch von Gott als „Gesalbter“ („Christus“) erwählt wird, die Babylonische Gefangenschaft des Volkes zu beenden. Gott handelt also in keinster Weise mit heiligen und vollkommenen Menschen, sondern beruft Sünder und Fremdlinge. Nicht zuletzt ist das irdische Leben von Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Gott, nach menschlichen Maßstäben eine Geschichte des Scheiterns, bevor seine Auferweckung Tod und Teufel besiegt.
Das könnte ein möglicher Trost sein für die Frage nach der Zulässigkeit von Unglück, Leid und Trauer vor den Augen eines all-mächtigen, barmherzigen und gerechten Gottes, der all das nicht verhindert. Heiner Geißler tappt auch in diese etwas kindische Ideologie-Falle. Er verkennt, dass das meiste Unglück auf dieser Erde menschliche Ursachen hat, wenn man die Ursachenkette bis zu ihrem Ursprung verfolgt, z.B. bei den modernen Zivilisationskrankheiten, und daher auch menschlich zu verantworten ist, ja verschuldet wird – ausgenommen tektonische Katastrophen wie Erd- und Seebeben und Vulkanausbrüche. An dieser Grenze finden philosophische und theologische Erklärungsversuche ihr Ende. Ob „man“ an Gott zweifeln muss, sei dahingestellt. Dass wir an den Gottesvorstellungen der Theologen zweifeln dürfen, ist für mich selbstverständlich. Leider trennt Geißler in seinem Buch nicht immer sauber zwischen Gott und unseren Gottesvorstellungen, obwohl er es selbst einfordert. Dass Heiner Geißler mit „der“ Theologie, ihren Gottesbildern und Dogmatiken tabulos ins Gericht geht, macht ihn durchaus sympathisch. Dass er letztendlich für sich alles auf die „Karte Jesus“ setzt, noch mehr – aber es kommt halt sehr ideologisch rüber. Eine echte Gottesbegegnung, eine persönliche Beziehung zu Jesus wünsche ich ihm umso mehr! Peter Hahne setzt alles auf die „Karte Bibel“, und für mich ist sein Gottes- und Weltverständnis nach der Lektüre zwar erfreulich politisch, aber doch sehr dogmatisch im Sinne der traditionellen Theologie (Bibelauslegung). Ihm wünsche ich das kritische Hinterfragen seiner Standpunkte, wie es ein Heiner Geißler tut. Glücklicherweise hat Jesus ja gesagt: „Ich bin der Weg“, und nicht: Ich bin der Standpunkt (Torsten Hebel)…
Beide Bücher sind für glaubensstarke Menschen eine gewinnbringende Lektüre! Dann lese ich noch den dicken Wälzer von John Allen über [„das neue Gesicht der Kirche“] zu Ende. Sieben Jahre nach dessen Erscheinen ist es spannend, Allens zehn prophetische Versuche einem Realitätstest zu unterziehen! Einige der Trends, die er beschreibt, sind schneller eingetreten, als gedacht, und Einiges hat sich anders entwickelt oder ist noch in Wartestellung. Seine ausgesprochen klerikal-traditionelle Charakterisierung des Weihepriestertums entspricht nicht mehr dem aktuellen theologischen Stand siehe [„Gemeinsam Kirche sein“] der Dt. Bischofskonferenz), und seinen konfessionellen Blickwinkel empfinde ich ebenfalls als überholt. Ein katholischer Amerikaner in Rom tickt halt doch ein bisschen anders als ein in Hamburg aufgewachsener Katholik, der in einer Freikirche mitarbeitet…
Eine spirituelle Horizonterweiterung sind für mich die orthodoxen Kirchen mit ihrer Ikonen-Spekulation. In den Kirchen Serbiens überraschen mich die jungen Männer in ihren kurzen Sporthosen, wie sie sich beim Betreten nonchalant Schürzen verpassen lassen, um „angemessen bekleidet“, wie es an den Eingängen eingefordert wird, vor die Ikonen zu treten. Ebenso Frauen, die gegebenenfalls Schultertücher bekommen. In Bulgarien und Rumänien ist das anscheinend nicht Standard. Überhaupt sind die Kirchen erfreulich auffällig nicht nur von Touristen frequentiert!
Für orthodoxe Gläubige drücken die Ikonen die unmittelbare Gegenwart Gottes oder der Heiligen aus. Entsprechend ehrfürchtig bekreuzigt man sich dreifach, verneigt sich und tritt in Körperkontakt mit der Ikone durch einen Kuss oder Auflegen der Hände. Manche Ikonenpulte haben auch Schlitze für Geldspenden. Das Ganze vor den Ikonen Christi (immer rechts), Mariens (links) und St. Nikolaus oder des Kirchenpatrons oder anderer Heiliger, dessen „Fan“ man ist. Besonders Frauen und Kinder lieben es, Kerzen zu entzünden. Ich vermag nicht zu erkennen, ob dieses Verhalten ein rein rituelles Brauchtum ist oder eine echte Beziehung zur Gegenwart Gottes im Leben ausdrückt. Ich selbst fühle mich zu den Christus-Ikonen hingezogen. Sie sind echtes Medium zu persönlicher Begegnung, und zwar auf Augenhöhe! Ich werde davon berührt, wie manche Männer sich mit beiden Händen an der Ikone festhalten, und ich mache es ihnen nach. Man darf „Christus“ anfassen, und ihn, ja, freundschaftlich küssen, aber sich auch vor dem Herrn des Lebens verneigen, auch meines Lebens. Das hat durchaus seinen Charme! In fast jeder Kirche sehen die Ikonen gleich aus. Jesus blickt mich mit übergroßen Augen an, aber irgendwie ist sein Blick leer. Er hat eine Bibel in seiner Rechten, deren kyrillische Inschrift ich trotz Grundkenntnissen nicht entziffern kann. Seine Linke macht mit Daumen am Ringfinger eine merkwürdige Geste zwischen Segen und der Art und Weise, wie z. Zt. Donald Trump seine (unsägliche) Politik erklärt. Das Ganze strahlt eine Starre aus, die mich provoziert: Jesus, Du bist zwar Alpha und Omega der Schöpfung, wie es in Deiner goldenen Gloriole (Heiligenschein) steht, beständig über alle Zeiten und Epochen, aber Du bist doch als Auferstandener lebendig unter uns, in uns und zwischen uns anwesend, mitten in der Banalität unseres Alltags! Wenn wir uns von Dir berühren lassen (nicht ich berühre Dich in der Ikone!), dann gehst Du beim Verlassen dieser Kirche mit zu den Menschen auf der Straße, zu unseren Familien, an unsere Arbeitsplätze und auch in die Freizeit auf dem Schiff!
Soll ich mir eine Christus-Ikone für die Wohnung kaufen? Ich werde es nicht tun. Ich habe ja sein persönliches Wort an mich in der Bibel, bei mir zu Hause am Schreibtisch (in mehreren Versionen), auf dem PC, und in der Hosentasche (wie es PP. Franziskus erst kürzlich allen Christen empfohlen hat) auf dem Smartphone immer dabei. Wie er ausgesehen haben mag, ist nicht so wichtig. Und er hat selbst gesagt, dass ich ihm „in den Geringsten seiner Brüder“ (Mt. 25, 40) begegne, lebendig, immer aufs Neue, und vor allem: Heute, jetzt und hier! Also kein frommer Rückzug in eine einseitig visuelle Medien-Spekulation oder in „heilige“ Räume! „Dort, wo Du (jetzt gerade) stehst, ist heiliger Boden“! (2. Mos. 3, 10) Ikonen und Sakramente sind respektable Hilfsmittel, aber was zählt, ist die persönliche Beziehung im Alltag (da sind sich PP. Benedikt XVI. und Facebook-Kritiker zu Recht einig). Die schönste Ikone Gottes ist der Mensch neben mir.
Die Dreifaltigkeits-Kathedrale in Rousse ist buchstäblich eine „Untergrundkirche“, die zur Bauzeit (um 1634) während der Osmanenherrschaft in Bulgarien außen nicht als Kirche erkennbar sein durfte. Erst nach dem Hinabsteigen eröffnet sich dem Besucher die Pracht des Himmels… Portal- und Glockenturm wurden später hinzugefügt.
Besonders in Serbien hat die Kirche die Chance, nach dem Bürgerkrieg ein Werte-Vakuum zu füllen. Ich hoffe, dass Jesus nicht ins Ikonen-Museum verbannt wird und theologische Tradition um ihrer selbst Willen (bzw. in der Person der Popen oder Bischöfe) an seine Stelle rückt. Jede orthodoxe Kirche ist offen, auch die kleinste, jede hat Personal, und sei es ein kleiner Ikonen-Shop oder einfach ein paar Mütterchen, die für Präsenz sorgen. (Die kath. Kirche in Rousse bekommt das nicht hin und ist sogar am Sonntag verschlossen.) In den Shops gibt es Devotionalien, Messbücher und Erbauungsliteratur, meist des ortsansässigen Bischofs oder Metropoliten, ich sehe den „Hymnos Akathistos“ zur Marienverehrung – eine Bibel suche ich überall vergeblich. Ob normale Buchhandlungen welche im Sortiment vorhalten? Vielleicht bekomme ich es noch heraus…