Kardinal predigt evangelistisch,

Kardinal predigt evangelistisch,

warum auch nicht? Bei diesem in katholischem Sprachgebrauch etwas ungewohnten Adjektiv geht es um Evangelisierung, und die ist die Grundidentität aller Kirchen und Gemeinden. Beim [Bischofsjubiläum im Osnabrücker Dom] stellt Kardinal Reinhard Marx den „Dreiklang Glaube, Vernunft und Leben“ als Lebensweg dar. „Wenn wir versuchen, den Missverständnissen auszuweichen, welche unsere Vorstellungen von Gott ausmachen, dann müssen wir uns auf einen Weg begeben.“ Dies bedeute nicht, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben und sich „nicht einfach darauf einzulassen, etwas nachzubeten was im Katechismus steht, nicht irgend etwas auswendig zu lernen, sondern dem Glauben auf den Grund zu gehen und ihn wirklich von der Vernunft her wenigstens zu versuchen, ihn tiefer zu erfassen.“ Seelsorge heiße nicht, die gelernte Dogmatik den Menschen einfach überzustülpen, sondern „Glaube ereignet sich“. Marx macht damit einmal mehr den Prozess-Charakter und die Dynamik des Glaubens deutlich.

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Das „große Netzwerk des ganzen Volkes Gottes“ im vollbesetzten Dom

„Der einzige Weg für uns, um die Unbegreiflichkeit Gottes auch nur ansatzweise in unsern Bereich hinein zu übersetzen, ist die Gestalt Jesu von Nazaret, und sich dieser Gestalt zu vergewissern. Wir können Gott nicht finden – aber er kann uns finden! Und er hat uns gefunden in der Person Jesu von Nazaret. Das ist das Zentrum des christlichen Glaubens. ER ist das Zentrum. Nicht irgendeine Wahrheit, sondern eine Person!“ In meinen Augen entkommt damit der christliche Glaube der Ideologie-Falle, in der er auf dem Markt der Weltanschauungen für viele Menschen steckt.

Ich wünsche mir, dass dieses „Sich der Gestalt Jesu zu vergewissern“, in der katholischen Kirche noch in viel deutlichere Worte gefasst wird: Es mit einer Person zu tun zu haben, spielt sich auf der Beziehungs-Ebene ab und nicht dort, wo ich Dogmen für wahr halte oder nicht. Reinhard Marx erinnert zu Recht an Benedikt XVI., der mit seinen Jesus-Büchern nicht müde wurde, Glaube als persönliche Beziehung zu Jesus zu beschreiben, und für PP. Franziskus und sein „Programm für die kommenden Jahre der Kirche“ ist diese Entscheidung, „sich von Jesus finden zu lassen oder ihn wenigstens jeden Tag zu suchen“ (EG 3) der Schlüssel für jegliche Erneuerung der Kirche! Da sind wir gefragt, Du und ich. Das können weder Strukturmaßnahmen erreichen, noch verheiratete Amtsträger oder die Einführung des Frauenpriestertums. Die Entscheidung für Jesus (Lebensübergabe, Taufe im Heiligen Geist oder wie immer diese Erfahrung bezeichnet werden mag) hat zur Konsequenz, sich dem Missionsauftrag Jesu zu stellen und ihn umzusetzen – dort, wo jeder von uns lebt: in der Familie, Schule, Arbeitswelt, Freizeit. „Da, wo Du stehst, ist heiliger Boden“ (2. Mos./Ex. 3, 7) spricht Gott nicht nur zu Mose, sondern zu Dir und mir.

160904-bibojubi2Am Beispiel von Mutter Teresa kommt Reinhard Marx dann doch noch auf diese Ebene. Für Mutter Teresa sei das „Thema Jesus“ nicht das „Thema Frömmigkeit“, sondern ihr zentrales Thema sei Jüngerschaft, Nachfolge! „Jesus geht es nicht darum, dass Menschen äußerlich fromm sind, sondern dass sie bei ihm sind, hinter ihm hergehen, die Gemeinschaft mit ihm suchen, seine Worte aufnehmen,“ so Reinhard Marx, „in seine Nachfolge eintreten“ – mit meinen Worten: also bewusst den Entschluss zu fassen, das Leben in Zukunft an den Worten Jesu und an den Werten der Bibel auszurichten [Bekehrung] – was wiederum sehr vielfältig aussehen könne.

Den Aufruf Jesu zur Besitzlosigkeit in Lk. 14, 33, der als Evangelium vorgelesen wurde, deutet Marx nicht materiell (wäre ja auch ein riskantes Unterfangen…), sondern geistlich: „Wenn wir nicht unsere Selbstbehauptung vor Gott hinter uns lassen, unsere Selbstermächtigung, unsere Absicherungen, unsere Leistungen, wenn wir uns nicht vor ihm aufplustern und ihn bezwingen wollen, ihn bestechen wollen, wenn wir endlich wissen, dass wir Nichts in Händen haben, dann kann Gott zu uns kommen. Aber er sagt nicht: „Du bist Nichts“, sondern wir können sagen: Gott hat ja auf seinen ganzen Besitz verzichtet und seinen Sohn für uns verschenkt, damit wir eintreten können in den Raum der Freiheit, und so merken: Erst, wenn wir wirklich frei geworden sind, können wir uns ganz auf ihn werfen. Oder besser noch: Kann er uns an die Hand nehmen und in die wahre Freiheit führen – in die Erkenntnis, dass Gott größer ist, als unser Herz!“ (1. Joh. 3, 20, Bodes Wahlspruch)

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Osnabrücker Dom- und [Jugendchor], Dombläser „Complesso di ottoni“
Aber dieses Frei-Werden ist eben nicht selbstgemacht, sondern Gottes Gnade, Geschenk – ich kann es annehmen oder ablehnen. Damit ist viel Gedankengut der Reformation Martin Luthers und des Pietismus ins Katholische eingeflossen. Dank sei Gott! Für mich eine Selbstverständlichkeit für den Glauben in postkonfessioneller Zeit.

Im übrigen hatte der Gottesdienst bei aller katholisch-liturgischen Schönheit durchaus seinen reizvollen „evangelischen Touch“ durch die Messkomposition Hans-Leo Haßlers (~1564–1612) aus der Reformationszeit mit Posaunenchor, mit „Nun lob mein Seel den Herren“ (EGB 289/GL 824), das in der Friedensstadt Osnabrück eine besondere Bedeutung hat, 18-stimmig (zwei 4-st. Chorgruppen und zwei 5-st. Bläsergruppen) von Heinrich Schütz (1585–1672), und „Nun danket alle Gott“ (EGB 321/GL 405) im Wechsel von Gemeinde und Chor im Satz des Zeitgenossen John Rutter (*1945), in der 3. Strophe nach anglikanischer Sitte mit Überchor. Seit Kindertagen für mich Musik mit totalem Gänsehauteffekt:

(Ab 1:33:05)

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