1. Tag
Er beginnt dem Humor Gottes in der Tageslosung: „Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben!“ (1. Mos./Gen. 24, 56)
Die Müllabfuhr ist heute dran, und so werden wir kurz nach dem Start schon aufgehalten, und mein Linienbus muss leider hinterher schleichen. Zudem ist die Hbf-Haltestelle auch noch verlegt, und ich schließe mich den forteilenden Reisenden an, keine Ahnung wo ich sonst herausgekommen wäre. Eigentlich muss ich mir doch überhaupt keinen Stress machen – ich bin Rentner und auf Geistlichen Tagen. Aber den Zug nach Gelsenkirchen möchte ich doch gerne noch bekommen – er hat Verspätung. Eine S-Bahn kommt nicht aus dem Bahnhof heraus. Kurz vor Essen Hbf. werden wir dann noch um Verständnis gebeten, dass wir nicht einfahren können, weil halt alle Gleise belegt seien… Nun ist es klar, dass ich meinen Anschluss-Bus in Gelsenkirchen nicht bekommen würde. Zum Glück habe ich einige Verbindungen im Smartphone, die offline gespeichert sind (ich habe nur WLAN, keine Datenrate). So kann ich total umdisponieren und muss erst noch mit der Stadtbahn und dann erst noch ein Stück auf einer anderen Buslinie fahren.
Ich war noch nie in Gelsenkirchen. Die Stadtbahn fährt unterm Hauptbahnhof. Das kann man gut finden. Aber dann an der Haltestelle Musiktheater: Wo fahren denn die Busse ab? In welche Richtung muss ich denn gehen? Aber der Geist Gottes schenkt mir gleich mit dem ersten Haltestellenschild an dieser großen Straßeneinmündung einen Volltreffer: Gnade zu meiner Reise! Mit 10 Min. Verspätung komme ich an der „Kirche 62“ an.
In der Kirche 62 erwartet mich die Bewohnerin der Einliegerwohnung, langjähriges Gemeindemitglied auch der Vorgänger-Gemeinde. Sie erzählt mir ein wenig von der speziellen Geschichte und der Problematik dieser Neugründung im Mülheimer Verband. Ein erster Eindruck von den Räumen und ihrer Möglichkeiten: riiiesig! Leider liegt noch einiges brach und hat das typische Syndrom kirchlicher Gemeindehäuser mit ihrem Charme vergangener Zeiten: Rumpelkammer für Sommerfest-Utensilien und Bastelartikel von Kinder- und Jugendtagen zu sein, von denen man sich bisher nicht trennen mochte. Aber auf dem Hof steht bereits ein großer Müllcontainer, und es wird nicht der erste dieses Gemeinde-Startups sein… Ich werde also genug zu tun bekommen. Eigentlich soll ich einen großen Holzzaun streichen. Aber er ist nass und durchgeweicht, sodass daraus erstmal nichts wird. So fange ich einfach damit an, aufzuräumen.
In der Bahn nutze ich die Zeit zum Einstieg in das Werk von Jonathan Paul. Seine Art zu schreiben mutet durchaus altertümlich an. Immer wieder verfällt er in den „Predigtton“ und stellt persönliche Fragen. Aber ich kann es gut lesen, es fällt mir nicht schwer. Es ist eine überaus gründliche Arbeit. Paul geht wie mit einem Mikroskop an die Taufe mit dem Heiligen Geist heran, beschreibt ihre Facetten, analysiert die Wirkungen in der Persönlichkeit des Gläubigen und gibt am Schluss praktische Hinweise.
Über die nach seiner Meinung bestehende Notwendigkeit der Geisttaufe lässt Paul keinen Zweifel und führt entsprechende Belegstellen aus der Bibel an. Was auch heute noch von fataler Wirkung ist: Lehre und Praxis der Taufe im Heiligen Geist verführt zu einem Elite-Denken. Mit Röm. 8, 9: „Ihr aber seid nicht vom Fleisch bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm.“ schließt Paul alle als Christen aus, die nicht (in seinem Sinn) geistgetauft sind. Andererseits mag er aber auch nicht ernsthaft aussschließen, dass es in der Kirchengeschichte immer Geistgewirktes gegeben hat, dass Frauen und Männer im Heiligen Geist geredet, gewirkt und gelebt haben. (Bei den alten Mystikern können wir sogar feststellen, dass es auch früher schon geistliche Phänomene gegeben hat, die heute in charismatischen Gemeinschaften „ganz normal“ sind. Das Sprachengebet ist selbst bei einzelnen Katholiken in keiner Epoche zu 100% untergegangen!) Selbstverständlich ist es nicht Pauls Absicht, mit seinen Betrachtungen zur Geisttaufe eine elitäre Sondergruppe zu gründen oder ihr das Wort zu reden. Aber „freikirchlicher Hochmut“ (wir sind bekehrt, ihr nicht – ist der oder die überhaupt gläubig? – der ist zwar Pastor, aber kein richtiger Christ…) ist gerade im Kontext der Geisttaufe eine bleibende Herausforderung, die in der Mission nichts zu suchen hat.
Und die Geisttaufe ist nach seiner Überzeugung ein Ereignis. Viele Bibelstellen sprechen sogar von „plötzlich“. Paul lehnt einen Prozesscharakter der Taufe mit dem Heiligen Geist ab – erfahrungsbezogene Argumentationen widersprächen dem biblischen Befund (Pauls Befund!).
Jonathan Paul mag ja in vielen Punkten ganz richtig liegen, aber er darf den Heiligen Geist auch nicht in sein „System“ pressen. „Der Geist weht, wie er will“, also möglicherweise auch ganz anders. Was für Paul nicht biblisch „normal“ ist, bezeichnet er als „abnormal“ – ob und wie wir dies heute als Werturteil verstehen müssen, wäre zu klären. Wir benutzen ja auch Eisenbahn, Autos, Fahrräder und umrunden die Erde mit dem Flugzeug, alles Dinge, von denen in der Bibel nichts zu finden ist. Ist es also „abnormal“, wenn wir zur Mission nicht hinaus in alle Welt „gehen“ – zu Fuß?