OEL-Woche 2

OEL-Woche 2

2. Tag

Die Losungen bescheren uns heute die „goldene Regel“ (Mt. 7, 12) Jesus charakterisiert damit „das ganze Gesetz und die Propheten“, also die Lehr- und Glaubenstradition. Über Gesetzlichkeit contra „Freiheit der Kinder Gottes“ werde ich im Buch von Jonathan Paul noch einiges lesen.

Ich fahre heute eine halbe Stunde früher los. Das macht die Strecke zwischen Mülheim und Gelsenkirchen wesentlich entspannter. Es gibt genug Luft zum Umsteigen, und die Spezialitäten verlegter Haltestellen und Gleiszugänge kenne ich ja nun schon. Und wenn es mal nicht klappen sollte, sind die nächsten Anschlussmöglichkeiten auch noch ausreichend. Kurz vor neun Uhr bin ich am Ziel.

Gestern hatte ich noch einen Teil der Arbeitsmaterialien aus dem ehem. Jugendraum in den Heizungsraum gebracht und ein wenig sortiert. Am Samstag soll noch Unterstützung durch eine Einsatzcrew kommen. Der große Kinderraum müsste zum Teil gestrichen werden, von knallblau auf weiß… Eigentlich wollte ich keine relativ anspruchsvollen Malerarbeiten machen, zumindest zu Hause traue ich mir das nicht mehr zu. Aber der Raum ist ganz leer, die Wände ohne große Macken, aber diese neue Plastik-Rohrleitung da oben unter der Decke… Wie soll man da ordentlich Farbe hinbekommen? Ich riskiere es, finde sogar neue Anstrichrollen und einen sauberen Eckenpinsel, und eine gute Wandfarbe ist auch da.

Wie befürchtet dauern die Vorarbeiten den ganzen Vormittag. Ich mache keine Gebetspause, denn beim Arbeiten bin ich allein mit dem Geist Gottes und kann dabei beten. Als ich alle Rohrleitungen und Ecken fertig habe, ist es Mittag. Ich werde zur Familie in der Einliegerwohnung eingeladen. Danke Jesus und Ulla!

Nachmittags steige ich in der City von Gelsenkirchen aus dem Bus und gehe zu Fuß Richtung Hbf. Der Bombenkrieg hat hier große Wunden geschlagen, das kann man an der neuen Bebauung sehen. Die Reste der ev. Altstadtkirche hat man abgetragen und etwas versetzt einen Neubau errichtet, dessen hoher Kirchturm an Hässlichkeit kaum zu übertreffen ist. Die Kirche ist offen – ich kann nur staunen über soviel umbauten, hohen Kirchenraum. Es ist wohl ein Beispiel sakraler Architektur aus den 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, das man in Bildbänden finden könnte. Die Musterungen des Ziegelmauerwerks sind durchaus kunsthandwerklich und originell. Aber dafür, wie ich mir eine „Kirche der Zukunft“ vorstelle, ist sie gänzlich ungeeignet. Wo braucht man heute noch hunderte von Plätzen in Kirchenbänken und auf Emporen? Ins Auge fällte die vorne rechts errichtete Pfeifenorgel. Für Konzerte sicherlich ein schöner Raum… aber Kirche? Raum für Begegnungen? Kommunikation? Austausch? Gespräche über Gott und die Welt? Und vor allem: Begegnungen mit dem lebendigen Gott? Die Seelsorge der Gemeinde setzt auf die [Thomasmesse]. Auf einige Bänke sind rohe Holzplatten gelegt: für Thomasmessen braucht man Tische. Zwei niedrige runde Tische und ein Stehtisch im metallischen Ikea-Partydesign „zieren“ den Zwischenraum zum (so muss man es hier sogar für eine evangelische Kirche sagen): Hochaltar. Das Paradox dieser pastoralen Verunstaltungen wird hier überdeutlich und ich wollte eigentlich achselzuckend den Raum verlassen.

Was mich aber hält, ist ein „Gedankenbuch“ – kein Fürbittbuch, wie man es öfter findet, sondern viele haben die Möglichkeit genutzt, zu danken, oder Gebete aufzuschreiben, auch kurze Grüße, oder Bruchstücke von Lebensläufen, Fragen, warum Gott manches persönliche Leid zulässt, oder halt auch Bitten. Ich lese lange in diesem Buch, versuche einige Gedanken betend aufzugreifen. Es wären Gebetsinhalte für viele Stunden!

Nur wenige hundert Meter seitlich steht die katholische Schwesterkirche. Sie hat den Bombenkrieg einigermaßen überstanden, Turm und neugotisches Kirchenschiff konnten wiederhergestellt werden. Auch diese Kirche ist wie ihre Nachbarin ziemlich groß. Auch sie versucht, Begegnungsräume zu bieten, und das ist ihr besser gelungen: Hinten sind etliche Bänke weggeräumt und eine mit Teppich, rundem Tisch und Stühlen ausgestattete Gesprächsecke ist entstanden. Auf dem Tisch brennt eine dicke Kerze. Was gleich auffällt: In dieser Kirche halten sich einige Leute auf, nicht nur touristisch, sondern auch Beter.

Später lerne ich noch aus den Infotafeln auf dem belebten Platz und im U-Bahnhof, dass bis 1835 die alte Stadtkirche von beiden Konfessionen genutzt wurde. Mit der Zuwanderung durch die Industriealisierung explodierten die Konfessionen und es entstanden nicht nur Eifersucht, sondern auch kämpferische Auseinandersetzungen, sodass an eine neue, große Simultankirche nicht mehr zu denken war. Schade, schade, schade! Im Hans-Sachs-Haus mit seiner beeindruckenden Bauhaus-Fassade der 20-er Jahre kann man sich eine Präsentation der Zuwanderung, der Konfessionsgeschichte und dem Gegeneinander der Religionen im Ruhrgebiet ansehen. Die Problematik ist mit der Einwanderung von Muslimen ja nach wie vor aktuell! Auch die Entstehung der Freikirchen wird behandelt. In den 20-er Jahren haben sich besonders die Methodisten durch Bildungs- und Sozialarbeit einen Namen gemacht, der aber von der Landeskirche und von Katholiken nicht nur argwöhnisch beobachtet, sondern auch durch juristische Spitzfindigkeiten bedrängt wurde.

Ich lese Jonathan Paul weiter. Seine Begrifflichkeit der Taufe im Heiligen Geist werde ich noch einmal repetieren müssen. Die Konsequenzen aus der Wiedergeburt, wie er es jetzt immer nennt, teilt er in drei Phasen auf: Versiegelung, Kraft aus der Höhe und Geistesfülle – und findet biblische Kriterien für einen Wachstumsprozess. Ein Prozess! Eigentlich wollte er doch gar keinen geistlichen Prozess für die Geistestaufe gelten lassen? Paul hebt Glaube als Beziehungsgeschehen hervor, als Erfahrung, ja, auch als Erlebnis, und unterscheidet ihn – zu Recht – von rein verstandesmäßigem Fürwahrhalten von Dogmen, auch von Dogmen über den Heiligen Geist. In seinem Definitions-Kapitel klang das noch ganz anders: Nicht die Erfahrung charakterisiere die Geisttaufe, sondern der streng biblische Befund. Diesem Widerspruch muss ich noch weiter nachgehen. Aber erst einmal das ganze Buch lesen! Und ich muss sagen: Es fesselt mich mehr und mehr. So ausführlich, kleinschrittig und differenzierend habe ich Pneumatologie bisher nicht lesen können (es wäre vielleicht interessant, einmal bei Heribert Mühlen nachzuforschen, ob in seinen Quellen Jonathan Paul irgendwo vorkommt). Pauls Buch ist spannend! Jedenfalls für mich…

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