5. Tag
Sonntagsgottesdienst in der [Kirche 62 Gelsenkirchen]! Um familienfreundliche 15:30 Uhr. („Die Gottesdienstzeiten in unseren Städten sind immer noch abhängig von den Melkzeiten auf dem Lande“ – Paul M. Zulehner). Heute muss ich eine vierte Verkehrsverbindung kennenlernen mit zwei U-Bahn-Linien, einer S-Bahn, die wieder mal Verspätung hat, und dem Bus, den ich dann natürlich verpasst habe. Aber es sind wohlweislich noch 30 Min. Zeitpuffer da… Es sind Herbstferien, und es regnet. Chris kann nicht Gitarre spielen, er hat sich einen Finger verletzt. Wir sind um die 15 Personen und 1 Kind. Die Lobpreisband besteht aus Silvia und Markus – und aus uns, der versammelten Gemeinde! Und es steckt Power in unserer kleinen Schar, das ist beim Singen sofort deutlich zu hören.
Vorher hatte ich noch ein gutes Gespräch mit Stefan, der zum ersten Mal Beamerdienst macht. Er ist katholisch und ein Freund Jesu. Überhaupt haben manche der Gemeindemitglieder und nicht wenige auch der Anpacker/innen einen solchen Kontext in ihrem früheren Leben. Das erlebe ich in den meisten Gemeinden, die ich bisher kennengelernt habe. Vielleicht sollte der Mülheimer Verband es nicht vergessen, dass sein Ursprung zuerst eine Erneuerungsbewegung innerhalb der Landeskirche war. Heute scheint er für Katholiken attraktiv zu sein, die mehr wollen als christlich sakramentalisierten Humanismus. Ich halte den MV für ein Organisationsmodell, das für den Primat der Evangelisierung in allen Bereichen der kath. Kirche hilfreich wäre, wenn der deutsche Katholizismus denn ernsthaft eine solche Kehrtwende angehen würde (PP. Franziskus hat sie mittlerweile wiederholt angemahnt!). Leider ist das nach meiner Einschätzung nicht der Fall. Man möchte lieber „neuen Wein“ der Frauenweihe und „Ehe für alle“ in die alten Schläuche der römischen Hierarchie füllen. Der neue Wein müssen missionarische Gemeinden sein, die in eine völlig neue (sprich: biblische) Struktur der Dienste gefüllt werden. So kann Kirche Sakrament Gottes sein: Zeichen und Werkzeug für eine umfassende Erneuerung der gesamten Menschheit (sprich: der mich umgebenden Gesellschaft), so steht es in den Konzilsbeschlüssen. In MV-Gemeinden wird Sakramentalität gelebt und für jede/n erlebbar. Dafür braucht man sie gar nicht theologisch und kompliziert zu lehren.
Nach der Lobpreiszeit zu Beginn predigt Markus – über die Früchte des Geistes (über die ich [gestern mit Jonathan Paul] nachgedacht habe!), besonders über Freundlichkeit und Güte (Gal. 5, 22 ff.) Er versucht den griechischen Ursprungsgehalten der deutschen Bezeichnungen auf die Spur zu kommen, die er ausführlich beschreibt. Vor allem Güte hat eine umfassendere Bedeutung, von materiellen Gütern bis hin zu barmherziger Zuwendung Gottes zu uns. Markus‘ Seitenblick auf „Gerechtigkeit“ finde ich besonders wichtig – Gottes Gerechtigkeit, die viel mehr ist, als Entlohnung für eine Investition (an Zeit, an Engagement, an Arbeitseinsatz, an „Kapital“ jeglicher Art), sondern die ein Geschenk aus Gottes Überfluss ist nach dem Maß, den Gott selbst setzt, also viel mehr beinhalten kann als wir uns menschlich vorzustellen vermögen.
Ich persönlich bin total dankbar für dieses Geschenk: Habe ich doch in diesen Tagen in der Kirche 62 so viel Freundlichkeit und Güte erlebt! Nicht nur, dass ich überhaupt hier sein durfte, sondern auch durch die Arbeit und das Gebet dabei, durch die geistliche Begleitung mit der Lektüre von Jonathan Paul und durch die wunderbaren Gespräche mit jung und alt. Die Mitglieder der Kirche 62 können sich glücklich schätzen, dass sie den Heiligen Geist und seine Früchte nicht nur erkannt und die Herrlichkeit Gottes gesehen haben, sondern dass sie dies alles auch verkörpern können. Liebe Leute der Kirche 62: Ihr steht Gott nicht gegenüber, sondern er hat bei Euch eine WG aufgemacht, damit wir die Liebe Gottes ausstrahlen in unsere Umgebung hinein. Der Heilige Geist wirkt durch uns an unseren Weggenossen.
Diesen Sonntag abschließen darf ich wieder mit den Unbilden des öffentlichen Nahverkehrs. Obwohl Renate mich zum Essener Hbf. mitgenommen hat und ich auch sofort Anschluss nach Mülheim bekommen konnte, ist MH-Speldorf am Sonntagabend ab 19:30 Uhr vom Busverkehr abgeschnitten. Unglaublich! Nur die Duisburger Straßenbahn fährt noch mit ihrem ausgedünnten Sonntagsfahrplan. Da heißt es wieder nicht „Ora et labora“, sondern „warte und bete“!