[„Meet Mission Manifest“] fand in der St. Anna-Basilika in Altötting statt. „Nordish by nature“ machte ich mich also auf den etwas umständlichen Weg mit der Deutschen Bahn nach Oberbayern in diesen bedeutendsten Marienwallfahrtsort Deutschlands, das kann man wohl sagen, ohne anderen Wallfahrtsorten ihre Anziehungskraft abzusprechen. (Die [„Telgter Wallfahrt“ von Osnabrück aus] ist immerhin die zweitgrößte Fußwallfahrt nördlich von Altötting.)
Ich war noch nie in Altötting. Der überaus gepflegte Kapellplatz mit der Wallfahrtskapelle in der Mitte und den umgebenden Kirchen mitsamt dem Rathaus „hat etwas“, allein schon als architektonisches Ensemble. Der Anziehungs- und Zielpunkt der ständig ankommenden Fuß- und Radwallfahrer ist natürlich die Kapelle in der Mitte, ein kleines Kirchlein, in deren Dunkel man eintaucht, und in einem noch dunkleren Achteck vor dem an sich unscheinbaren und kleinen Wallfahrtsbild Mariens man verweilen kann.
Die Statue wurde in der Renaissancezeit mit goldenen Brokatgewändern bekleidet. Das Dunkel und die silbernen Ehrengaben bayerischer Monarchen an den Seiten und der Decke des aufstrebenden Achtecks schaffen eine mystische, byzantinisch anmutende Atmosphäre.
Sehr berührt haben mich die unzähligen angenagelten Votivtafeln, mit der die Kapelle außen sozusagen verkleidet ist. Sei es bei Unfällen von Familienmitgliedern, lebensbedrohlichen Krankheiten, Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft, Prüfungen, vielfältigen Notlagen und Bedrängnissen, immer heißt es: Maria hat geholfen! Und so manche Krücke, Gipsbeinhülle und an der Decke aufgehängte Prothese gibt Zeugnis davon: Hier wurde wirklich Heilung geschenkt! Ein solches Erlebnis lässt sich nicht einfach als Märchen abtun, das kann ich mit meinem eigenen Leib bezeugen. Nur: Ich habe nicht zu Maria gebetet, sondern [mein Vertrauen einfach auf Jesus gesetzt]. Er ist es, der Kranke heilt und seine Jüngerinnen und Jünger mit Heilungsdienst beauftragt hat (Lk 10, 9).
Maria als Fürsprecherin bei ihrem Sohn, dem Haupt der Schöpfung und der Kirche – warum eigentlich nicht? Muss es denn nach Reformation und Aufklärung weniger Mütterlichkeit sein? Die alten Konzilien haben Maria als Mutter nicht nur des Menschen Jesus verstanden, sondern auch hinsichtlich seiner Göttlichkeit. „Maria Gottesmutter“ (Theotókos) ist in der orthodoxen Version des Christentums ein eigener Teil in der byzantinischen Liturgie gewidmet („Kondakion“ zwischen dem „Kleinen Einzug“ mit dem Evangeliar und den Lesungen, in der römischen Liturgie gibt es das in dieser Form nicht). Das Konzil von Ephesus 431 hat auch in den evangelischen Kirchen und Freikirchen Geltung, und dennoch hat man Maria dort fast vergessen.
Maria und die Heiligen als Vorbild – bitte, gerne! (Maximilian Kolbe z. B. spielt im Alpha-Kurs eine bedeutende Rolle, neben dem kath. konzilskonformen Kirchen- und Gemeindeverständnis ein geschickter Schachzug des Heiligen Geistes, weil gerade in den Freikirchen dieser Glaubenskurs weit verbreitet ist…) Maria als „Urbild der Kirche“: Ihr Ja zur Botschaft des Engels, ihre Bereitschaft, sich auf das Kind Jesus als Mutter einzulassen, ihre absolut jesuszentrierte Überzeugung „Was Er euch sagt, das tut“ (Joh. 2, 5), ihr Dabeisein an Pfingsten im Kreis der Apostel – an ihr wird sichtbar, wie unsere Jüngerschaft aussehen soll. So kann ich gut „mit“ ihr beten – und freue mich immer, wenn beim Lobpreis in freikirchlichen Gemeinden ihr Magnificat in der [Praise & Worship-Version des Katholiken Albert Frey] gesungen wird. „Zu“ Maria bete ich eigentlich nicht, da bin ich als in Hamburg aufgewachsener Katholik vielleicht zu „protestantisch“ geprägt. Der Rosenkranz ist mir für den Alltagsbetrieb zu ritualistisch und starr, obwohl er ja eigentlich ein Jesus-Gebet ist und man die Geschehnisse aus dem Leben Jesu und dem Wirken des Heiligen Geistes auch sehr kreativ, spontan und frei formulieren kann – und darum habe ich nicht nur einen Fingerrosenkranz an meinem Autoschlüssel, sondern bete ihn gelegentlich am Steuer auch, denn dabei wird die Konzentration auf den Verkehr nicht beeinträchtigt.
Mit der Deutschen Bahn kann man nicht von Norddeutschland aus an einem Tag nach Oberbayern und zurück kommen. Daher musste ich zwei Übernachtungen einplanen und mich einem weiteren „Schachzug“ stellen, denn booking.com hatte mir eine Unterkunft in Neuötting ausgesucht, die sich als Flüchtlingsheim entpuppte. Ich hatte zwar ein Doppelstockbett in einem seperaten Zimmer ohne Waschbecken für mich alleine, aber der Rest des Hauses, Toiletten, Duschen, Küchen war der Belegungs- und Benutzungsquote in keiner Weise gewachsen. Eine wenigstens hygienisch ausreichende professionelle, wöchentliche Hausreinigung gibt es nicht. Falls die öffentliche Hand denselben überzogenen Pensionspreis zahlt wie ich, verdienen sich Hauseigentümer eine ganz schön goldene Nase! Soviel zur ethischen Verantwortbarkeit christlich-sozialer Mehrheitspolitik im bayerischen Abendland.
Am Sonntagmorgen hatte ich also noch ein wenig Zeit, das Treiben auf dem Kapellplatz in Altötting auf mich Wirken zu lassen. Kein Zweifel: Auch hier ist Kirche lebendig! Auch hier wird kraftvoll geglaubt! Hier geschehen Heilungswunder! Dass Maria als Helferin, Mittlerin, Himmelskönigin und Patrona Bavariae im Volksbrauchtum aber im Grunde als gottgleich verehrt wird (Bischof Oster: „Neben dem Vater ist da auch die Mutter – wir sind Gottes Kinder und als Kirche auch Kinder der Mutter“), geht mir dann doch zu weit – und der überschwängliche Barock in den Kirchen tut ein Übriges dazu! (Wobei die St. Anna-Basilika in gar keinem echten Barock erbaut wurde, sondern 1910–13 in rückwärtsgewandtem Pseudo-Barock, in dem ich mich auch nicht sonderlich wohlgefühlt habe.) Das musste auch der (lt. Erik Flügge) „evangelikale“ Bischof Stefan Oster lernen, als er in seinem Impuls der kath. Marienverehrungs-Praxis eine quasi automatische Implikation des Wirkens des Heiligen Geistes zumaß („willst Du den Heiligen Geist, dann bete einfach zu Maria“) und sich bei dem Satz „wo überall die Mutter Gottes angeb…“ auf die Lippen beißen musste und dann aber korrekt „verehrt“ sagte, und prompt den Faden seiner Predigt verlor und seinen Gedanken nicht mehr zu Ende führen konnte. Wir haben über diese kleine Peinlichkeit hinweggelacht, aber weder der Heilige Geist, noch sein Smartphone mit der Predigtgliederung konnten ihm in diesem Moment helfen [Min. 22:25, leider wegretuschiert].
Also: Maria wird in der katholischen Kirche nicht angebetet, sie ist keine Göttin und auch nicht der Heilige Geist: Herr und Mittler der Gnade Gottes ist Jesus allein, und in seiner Gegenwart haben wir unmittelbaren Zugang zum Vater. Es gibt auch keine Zwischeninstanzen, weder Heilige noch Amtsinhaber. Der Geist Gottes ist nicht an heilige Orte gebunden, auch nicht an Amtshandlungen, wenngleich er auch in (gesprochenen!) Worten und (persönlich vollzogenen!) Zeichen wirken kann, sofern ich dafür offen bin („opus operantis“) und ich ihn an mir handeln lassen möchte. Eine Vereinseitigung oder Vorrangstellung der sakramentalen Handlung „ex opere operato“ ist meines Erachtens nicht katholisch.
Im Frömmigkeitsbrauchtum wird die Grenze zu einem magischen Verständnis leicht überschritten, wobei das „offizielle Altötting“ (u. a. Wallfahrtsorte) einige Mühe hat, Jesus in die Mitte zu stellen. Die wöchentlichen Katechesen unter dem Motto „Durch das Vorbild der Heiligen Christus nachfolgen“ zeigen immerhin in die richtige Richtung.
An dem Erscheinungsbild einer „bayerischen Heimatgöttin“ haben auch die vielen Andenken- und Devotionalienhändler anteil, die rings um den ganzen Kapellplatz ihren Kitsch anbieten. Ich gönne ihnen ja ihr Geschäft, aber ich habe nicht einen gefunden, bei dem es spirituell tiefgehend und künstlerisch etwas ernstzunehmender zugehen würde. Außerdem werden die Grenzen zu esoterischen Engelskulten munter überschritten, und selbst fernöstlicher Ramsch findet offenbar seine Abnehmer. Da steht dann neben japanischen Winkekatzen aus billigem Plastik halt auch der aktuelle Winkepapst. So vermittelt der Kapellplatz, wenn man näher hinguckt ist das durchaus public ralated für Altötting, auch den Eindruck eines dekorativen Christentums mit all seinen Oberflächlichkeiten: der Rosenkranz als reine Gebetstechnik und der Glaube als bloß ritueller Vollzug frommen Brauchtums (Kerzen anzünden und Gebete aufsagend die Kapelle umrunden).
Da kommt dann schon die Frage nach dem Wesentlichen, Eigentlichen des Glaubens hoch, und Gott sei Dank gibt es die „Pilgerbetreuung“, die im Lauf des Sonntagvormittags ihren Pavillon aufbaute und neben Beratung und Tipps zum spirituellen Angebot in Altötting auch Gespräche und Glaubenszeugnisse „im Gepäck“ hatte. Mit einem ihrer kompetenten Gesprächspartner konnte ich dann auch meine norddeutsch „evangelisch gefärbten“ Fragen und Bedenken zur Sprache bringen und klären. Dass es uns Christen um Jesus gehen muss, darüber hatten wir beide keinen Zweifel. Anbetung rund um die Uhr gibt es auch, geschieht aber eher im Hintergrund. Wie war das noch mit den Paradigmenwechseln für die ganze Kirche?
Die Sonntagsmesse im hochbarocken „Kongregationssaal“ (leider auch hier frontal und mit Kirchenbänken) war gut vorbereitet, es redete nicht nur der Priester, sondern auch die Gemeindereferentin (dennoch wäre Erik Flügge bestimmt der Kragen geplatzt…), und es gab liebevoll gestaltete Musik einer kleinen, feinen und jungen Band, die sich sowohl auf moderne Lieder aus dem Gesangbuch verstand, als auch mit „klassischer Musik“ keine Schwierigkeiten hatte. „A Clare Benediction“ von John Rutter hat mich gerade an diesem Ort und Tag sehr berührt, denn die Tenorstimme hatte ich noch im Kopf und konnte sie leise mitsingen … Zwar war von der Zielgruppe dieser als wöchentlicher (!) „Jugendmesse“ angekündigten Stunde nicht viel zu sehen (die Altöttinger Youngster brettern lieber mit ihren getunten Autos durch die Straßen, wie es am gestrigen Samstagnachmittag nicht zu überhören war), aber ein etwas weniger ritualistisch gefeierter Gottesdienst darf ja auch auf die üblichen „grauen Häupter“, zu denen ich gehöre, durchaus anziehend wirken. So durfte ich an diesem Sonntag versöhnt mit Gott und der Welt (auf dem Kapellplatz gibt es öffentliches WLAN…) zuversichtlich den Weg zum Bahnhof und meine Heimreise antreten!
Was ich dann auf der Rückfahrt in den Norden noch mit der Deutschen Bahn erlebt habe, darüber spare ich mir jetzt die Einzelheiten – jedenfalls wurden aus regulären fünf Std. Fahrzeit zehn und der letzte Bus daheim war dann auch weg.