Mit dieser etwas provozierenden Frage sollte nicht die Bibel als Offenbarung Gottes als solche hinterfragt werden, sondern die Art und Weise, wie wir heute mit der Bibel umgehen. Die Theologie nennt das „Biblische Hermeneutik“. Es gibt ein ganzes Bündel von Methoden, die Bibel auszulegen. Die „Wahrheit“ ist nicht in einer einzigen Methode zu finden, und alle anderen wären abzulehnen. Was steht denn im Text? An wen ist er gerichtet? Um welche Art von Literatur handelt es sich: Bericht, Predigt, Brief, Prophetie? Welchen Einfluss haben die damaligen Zeitumstände und die Kultur auf das Textverständnis? Führen uns solche Fragen in die Irre, oder müssen wir nicht weiter fragen: Was will Gott mir und uns heute sagen? Wie kann oder muss ich das in meinem Leben anwenden? Was also haben die Botschaften der Bibel mit mir zu tun, und zwar ganz persönlich? Diese Zusammenhänge haben unmittelbare Auswirkung auf das Verständnis eines biblischen Textes – und damit ist schon zusammengefasst, dass wir heute mehr denn je eine geistliche Schriftauslegung brauchen, die uns zum Engagement herausfordert.
Die jährliche „TLT“ – Theologische Leiter-Tagung der Pastorinnen und Pastoren des Mülheimer Verbands (MV) befasste sich diesmal genau mit diesem Themenkomplex, und ich durfte dabei sein.
Erste Überraschung
(und ich hatte das nach meinem [„freiwilligen Jahr“] in einer freikirchlichen Gemeinde dieses Kalibers eigentlich auch nicht anders erwartet): Es handelte sich nicht um eine Versammlung von Bibelfundamentalisten, in der auf hohem Niveau über die liberale Theologie und deren kirchliche Strukturen gejammert wurde. Zwar waren hier und da auch kritische Stimmen zu hören, aber ganz überwiegend waren hier Menschen zusammen, die von Jesus begeistert sind, und aus dieser persönlichen Beziehung heraus die Spannung zwischen der Bibel als göttlicher Offenbarung und dem Missionsauftrag Jesu an uns heute konstruktiv und kreativ fruchtbar machen wollen!
Zweite Überraschung:
Das theologische Niveau der Referate und Gruppengespräche. Es war wirklich hoch. Ein Einfliegen (teurer) Fachleute war gar nicht nötig. Die Tagung wurde komplett mit eigenen Kräften gestaltet. Die Pastorenschaft des MV hat genug Spezialisten für theologische und pastorale Fragestellungen. Samuel Klapproth (Altdorf) verstand es, in seinem abendlichen Schnelldurchgang durch die Geschichte der Bibelauslegung die Aufmerksamkeit derart zu fesseln, dass im Auditorium auch nicht die Spur einer Ermüdungserscheinung auftrat. Gefreut hat mich der Hinweis auf das 2. Vatikanische Konzil und die Bedeutung der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift für eine „echte Revolution in der kath. Kirche“. Später in den Gruppengesprächen des nächsten Tages erfuhr ich von einem Pastor und Doktoranden dessen Auseinandersetzung mit „Dei Verbum“, der [Konzilskonstitution über die Göttliche Offenbarung].
Für mich persönlich ist der Bereich „Schrift und Tradition“ kein Problem, ist doch die Kanonisierung der Bibel (welche Schriften in sie hinein gehören und welche nicht) im 4. Jahrhundert selbst ein Ergebnis von Diskussionen, Theologengutachten und Konzilsbeschlüssen gewesen, begründet in der Tradition der vorausgehenden Generationen. Es gibt Texte der frühen Kirche, die älter sind als manche Bücher des Neuen Testaments, die aber aus verschiedenen Gründen nicht als authentische Überlieferung anerkannt wurden. Die Bibel selbst ist ein Ergebnis der Tradition – das wird von Bibelfundamentalisten meist übersehen.
Dritte Überraschung:
Viel Zeit für das Wirken des Heiligen Geistes! Gesprächsrunden, Spaziergang, Wortmeditation und „helfendes Gebet“, stille Zeit, immer wieder Segnungszeiten in kleinen Gruppen – das kannte ich in dieser Ausdehnung und Intensität bisher nicht. Es ist ja überhaupt ein Kennzeichen charismatischer Gemeinschaften, dass hör- und fühlbares Gebet zu zweit oder mehreren eine geistliche Tiefe ermöglicht, die wirklich neue Horizonte eröffnet, die unmittelbar hilft – und ja, auch heilt. In den MV-Gemeinden (und charismatischen Gemeinschaften anderer Konfessionen) dürfte diese Art von Spiritualität zu den Selbstverständlichkeiten in den Gottesdiensten und Hauskreisen gehören. Davon können die Großkirchen noch [sehr viel lernen]. Es nicht zu tun ist für mich eine der Ursachen der „Verdunstung des geistlichen Grundwasserspiegels“ (Franz-Josef Bode) und der Austrocknungserscheinungen der Kirche(n), die in letzter Konsequenz zur Abwicklung von Gemeinden führt.
Vierte Überraschung:
Die Eucharistiefeier in der Mitte des vorletzten Tages. Ich muss sie so nennen. Es gibt wenig Gottesdienste, die mich so berührt haben, vielleicht von unserer Hochzeits- und Silberhochzeitsfeier abgesehen, mit denen sie im Übrigen viel Ähnlichkeit hatte. Die Eindrücke der Pastorentagung, das Lernen, das gemeinsame Beten, die Gespräche an den langen Spätsommerabenden, die Reflexion auf den eigenen Lebens- und Glaubensweg, alles das fügte sich zusammen in einer „Konzelebration“, die auf das Wesentlichste beschränkt, das Hören und das Empfangen zum Ausdruck brachte.
Für einen (evangelischen) Gottesdienst ungewöhnlich: Es gab keine Predigt. Es gab „hörendes Gebet“. Wegen der warmen Witterung hatten wir Fenster und Türen weit geöffnet. Unser langes, gemeinsames Schweigen wurde von ruhiger Musik unterstützt. Dann kamen von draußen Klänge herein, die exakt dieselbe Tonalität hatten. Ich ahnte, was die Ursache dieses Phänomens war und konnte es nicht mehr aushalten. Es drängte mich von meinem Stuhl und ich musste nach draußen auf die Terrasse gehen, wo einige der Pastorenkinder spielten. Von der etwas unterhalb gelegenen Nicolaikirche erklang das Geläut (Donnerstag um 11:30 Uhr!), so als ob mir der Turm, dessen Alter (1385/1749) ihm stark anzusehen ist, sagen wollte: „Ihr feiert da drinnen den [Frühling der Kirche], aber ich bin auch noch da…!“ Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich muss und kann diesen Moment aushalten. Ich stehe ziemlich genau in der Mitte zwischen der barocken Turmhaube und der Liturgie, die sich drinnen abspielt. Ich habe ein Geländer, an dem ich mich festhalten kann.
Als die Glocken verklungen waren, gehe ich wieder hinein. Ich bin anscheinend nicht der Einzige, den es nicht auf dem Stuhl gehalten hat. Wir feiern Abendmahl, in unseren Regionalgruppen um Brot und Traubensaft in unserer Mitte versammelt. Der Herr ist gegenwärtig. Während der Kommunion nimmt mich mein Nachbar (er gehört zur MV-Leitung) in den Arm: „Schön, dass Du bei uns bist!“ Es gibt einen Grund, warum er das so sagt. Allein das ist schon ein kleines Wunder in meinem Leben und im Leben der Kirche. Aber mir ist auch klar, dass ich damit vor „meinem Ninive“ stehe, mit all den unvorhersehbaren Konsequenzen. Mein Ninive, das ist die katholische Kirche. Nein, ich fürchte mich nicht! Und ich vertraue einfach darauf, dass es mich nicht überfordert (Lk 11, 29-30).
Es ist die Geschwisterlichkeit und Unbefangenheit unter den Teilnehmer/innen, die mich fasziniert. Nun ja, der [MV] ist eine der kleinsten Freikirchen und mit seinen 41 Gemeinden ziemlich übersichtlich. Der MV hat keine eigene Ausbildungsstätte, und so kommen die unterschiedlichsten theol. Fakultäten, Hochschulen und Ausbildungswege zusammen, Früh-, Spät- und Quereinsteiger mit ihren je eigenen Lebens- und Bekehrungsgeschichten – eine ganz eigene Art von „Katholizität“ im Umgang miteinander, aber eine ganz starke…!
Es ist eine junge Truppe, das fällt mir auch auf. Die Unvoreingenommenheit, mit der sie mir begegnen, überwältigt – und beschämt mich zugleich.
Wir tagen im [Haus der Deutschen Evangelischen Allianz], eine Art „Zentrale“ der evangelikalen Bewegungen Deutschlands, in Bad Blankenburg im schönen Thüringer Wald. Die jährlichen [Allianz-Konferenzen] waren zu DDR-Zeiten ein Wallfahrtsort für Tausende junger Leute, die nach Mehr als der Ideologie der „Jungen Pioniere“ suchten. Heute sind die Gebäude (Ende des 19. Jhdts. die Initiative einer einzigen Frau, Anna v. Wehling) Bildungsstätte und Hotel mit modernem ****-Standard. Wir bekommen eine Führung durch den historischen Hallenbau, 1906 errichtet in nur 10 Wochen, mit 2.000 hölzernen Klappsitzen. Dieser Ort erinnert mich an die amerikanischen Mega-Gemeinden und an den [Willow-Creek-Kongress 2016 in Hannover], bei dem ich einer von 10.000 Christen war, denen Jesus und die Kirche nicht egal ist. So effektiv solche Kongresse (und Kirchentage) auch für den persönlichen Glauben und das Engagement sein mögen: Der Missionsauftrag Jesu ist ein „Geht-hinaus-Auftrag“ und kein „Kommt-alle-in-unsere-Kirche-Auftrag”! Die Schwestern von Mutter Teresa können mit ihrem „nutzlosen“ Engagement die Fragen Jesu beim Jüngsten Gericht (Mt. 25, 37-40) wahrscheinlich genauer beantworten als wir. Es sind sämtlich diakonische Fragen! Frömmigkeit, Geisttaufe, Dogmen, Konfessionen und Zahĺen haben da keinerlei Bedeutung.
„Die Ära der Bibelkritik nähert sich in der Weltchristenheit ihrem Ende. Viele evangelikale Autoren sind sich noch gar nicht bewusst, welche positiven Auswirkungen ihre jahrzehntelange Verteidigung der Glaubwürdigkeit der Bibel bei gleichzeitiger Würdigung historischer Forschung rund um die Bibel auf die katholische Kirche hat.“
(Thomas Schirrmacher in:
Kaffeepausen mit dem Papst, Holzgerlingen (SCM) 2016, S. 114)
„Die tiefste Quelle, aus der der Jesuit Bergoglio schöpft, ist die Heilige Schrift, in der er in einer Weise lebt, wie sie bei heutigen geistlichen Schriftstellern selten geworden ist. Da herrscht nicht an erster Stelle der historisch-kritische Blick, zu dem wir heute vielfach angeleitet sind, sondern das einfache Eintauchen in das, was einen … anspricht. Bergoglio hört ganz offensichtlich in der Schrift … das »Wort des lebendigen Gottes«. Schriftbetrachtung ist für ihn eindeutig Begegnung mit dem lebendigen Gott.“
(Hans Waldenfels: Sein Name ist Franziskus,
Paderborn (Schöningh) 2014, S. 17f.)
Biblische Hermeneutik: [So nahe beieinander] sind Evangelikale und Katholiken. Wie war das noch auf dem Weltjugendtag 2016 in Krakau: „Brücken bauen“? Sogar „Mauern einreißen“? Nur etwas für Jugendliche? …
Pingback: Klar zur Wende! – ON FIRE