7. Tag
In der Kirche 62 Gelsenkirchen war mein „Labora“ etwas effektiver, als in der vorbereitenden Option vorgesehen. Ich habe also mehr geschafft. Darum ist heute, am letzten Tag, dort nichts weiter für mich zu tun. So kann ich heute noch einen Familieneinsatz mit Kochdienst für die Familie meines Sohnes und Gäste machen, die heute kommen wollen. Gegen Abend geht es dann wieder nach Hause.
Das Buch von Jonathan Paul habe ich noch nicht durch. Wenn es die Zeit erlaubt, steige ich in den 2. Teil ein: „Das Menschenleben unter dem Einfluss der Geistestaufe“. Ich denke: Noch ein Stufenmodell… (1. Gerechtigkeit, 2. Heiligung, 3. Erlösung) Bei den christlichen Mystikern gibt es solche Modelle zuhauf. Am bekanntesten ist das von Johannes vom Kreuz. Aber viele andere haben so etwas entwickelt. Es geht von „vormystischem Gebet“ über drei bis hin zu 30 Stufen der geistlichen „Vollkommenheit“, wohl ahnend, dass eine „Vereinigung mit dem göttlichen Willen“ oder gar eine „Vermählung Gottes mit dem Menschen“ nur ein sprachlicher Abglanz dessen sein kann, was eigentlich, ja, auch Jonathan Paul erfahren hat. Jonathan Paul ist ein christlicher Mystiker! Eigenartig, dass „christliche Mystik“ immer nur als katholische Bastion wahrgenommen wird. Evangelische Mystik gibt es seit Aufkommen des Pietismus, und ich identifiziere sie durchaus als erste unbewusst ökumenische, geistliche Bewegung! Zinzendorf hat Thomas von Kempens „Nachfolge Christi“ gut gekannt und verinnerlicht. Es sei erinnert an Paul Gerhardt, Teerstegen (den Paul ebenfalls zitiert), den Konvertiten Johannes Scheffler (alias Angelus Silesius), die Blumhardt-Familie, in neuerer Zeit Dietrich Bonhoeffer, und ich liste Jonathan Paul gerne dazu auf.
In der Mystik geht es nicht um die Vernunft-Erkenntnis Gottes, sondern um Erfahrung seiner Zuwendung, Erlebnis seiner Lebendigkeit im Heiligen Geist, um persönliches Gottvertrauen und das Bekenntnis dazu. Christliche Mystik hat nichts mit Esoterik zu tun. Sie darf Gottes Geist aber auch nicht in ein System pressen, sondern muss „Gott frei lassen“ aus allen allzu-menschlichen Denk- und Gefühlsmustern. Der Katholik Karl Rahner, bedeutendster Theologe seit Thomas von Aquin, hat sehr Wesentliches dazu beigetragen, dass es beim Glauben nicht um Brauchtum geht, dass der Katechese Evangelisation vorangehen muss und dass zur Dogmatik Begegnung mit dem lebendigen Gott gehört, inklusive Bekenntnis und Entscheidung. Das wird oft zitiert, aber kaum verstanden und schon gar nicht in eine pastorale Strategie übersetzt. (Wer es nachlesen möchte: „Frömmigkeit früher und heute“, in: Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln ²1971, S. 22+23) Freikirchlichen Gemeinden (bes. denen in der [Evangelischen Allianz]) gelingt es, Mystik in Pastoral umzusetzen.
Wenn der Lobpreisleiter der Kirche 62 zwischen den Liedern beim Gebet wiederholt aus tiefstem Herzen ausruft (und es war für mich sehr berührend und glaubwürdig): „Jesus, wir lieben dich!“ und die Gemeinde einstimmt und zustimmt, dann ist das Mystik des Alltags und gelebte (weil hörbare) Sakramentalität einer Gemeinde von ganz normalen Leuten. So etwas ist anziehend, sowohl für Suchende, als auch für Kirchenchristen, und die Traditionskirchen wären gut beraten, die Schatzkisten ihrer eigenen Mystik ans Licht zu heben und sich bei den Freikirchen abzugucken, wie das im Alltag des 21. Jahrhunderts transformiert und zur Wirkung kommen kann!